Literarisches Gebären

Herr Bär erwachte wieder mal erst am späten Nachmittag aus einem tiefen Schlaf. Er schwang die Pratzen aus seinem gemütlichen Kastenbett und schlurfte in seinem Pyjama und seinen Lieblingspantoffeln durch die Räume. Sein Haus lag im Bauch einer großen Kastanie und Herr Bär war zu Recht stolz auf die Gemütlichkeit und Natürlichkeit in diesem Wohnbaum, den er sein Eigen nannte. Zu seinen Morgenroutinen gehörte, neben dem Mahlen und Brühen seines Lieblingskaffees, vor allem ein ausgiebiges Stretching-Programm und das Gießen seiner Pflanzen in dem kleinen umzäunten Garten vor seiner Haustür.

Bis er schließlich an seinem Schreibtisch saß, mit dem herrlichen Blick auf die Blumenwiese vor seinem Fenster, konnten Stunden vergangen sein. Doch irgendwann musste er sich einen Ruck geben und dort niederlassen. Auch heute, wie gewöhnlich, drückte die Deadline seiner Redaktion und die Redaktionsleitung, also Herr Elster, konnte sehr unangenehm werden, wenn es um so etwas wie Deadlines ging. Herr Bär hatte noch nicht einmal ein Thema und so lehnte er sich mit Lesebrille auf der Nase und Stift am Mund in seinem Bürostuhl zurück und überlegte wippend, was die Welt wohl gerade so bewegte.

Viele Ideen verwarf er sofort wieder, z.B. ein Essay über die Diskriminierung entlassener Zirkusgefangener in der Bärencommunity. Das Thema erschien ihm zu schwer für einen so schönen Frühlingstag. An anderen Themen arbeitete er eine Weile, musste sie aber aufgrund ihrer Komplexität und ihres Umfangs schließlich doch aufgeben. Z.B. ein Bericht zum vor Kurzem stattgefundenen Treffen der Bärenoberhäupter zur Verbesserung der internationalen Beziehungen zu den Bienen. Nach längerem Überlegen und Ausprobieren entschied er sich endlich für ein topaktuelles und dennoch leichtes Thema: den Trend zum Upcycling des alten Bärenwinterfells, mit dem Titel: „Bärische Zeitwende oder alter Hut“.

Wie üblich spürte Herr Bär direkt nach seiner Entscheidung den energiespendenden Kuss der Muse, knackte noch einmal mit den Fingern und Nackenmuskeln, streckte die Arme und hätte sie wohl als Nächstes auf das Papier vor ihm niedergelassen, wenn nicht just in diesem Moment eine, da war er sich sicher, ungewöhnlich laute Fliege nur Millimeter vor seinem Ohr vorbei geflogen wäre. Herr Bär war in seiner Bewegung erstarrt und drehte unwillkürlich den Kopf ob der wüsten Unterbrechung. Die Fliege jedoch, war nirgends mehr zu sehen oder hören.

Herr Bär schüttelte den Schock ab, bemüht den kreativen Fluss nicht zu unterbrechen, denn wie man weiß, ist die Muse keine besonders verständnisvolle, sondern eine sehr nachtragende Gefährtin. Erneut streckte Herr Bär seine Arme aus und senkte seinen Stift voller Elan auf das Papier herab, doch leider setzte sich die Fliege in diesem Moment direkt auf seine Nase. Erbost wedelte Herr Bär vor seinem Gesicht herum. Das war ja wohl die Höhe. Die Muse hatte sich mit diesem zweiten Angriff vollständig aus dem Staub gemacht.

„Entschuldigen Sie mal!“, rief Herr Bär empört. „Sehen Sie denn nicht, dass ich hier arbeite?“, fragte er so sachlich und freundlich, wie es ihm im Moment nur möglich war. „Ach, arbeiten nennen Sie das?“, entgegnete es ihm vom Fenster. Herr Bär suchte den Bereich mit seinen Augen ab, bis er schließlich eine winzige Fliege entdeckte. „Bitte?“, fragte Herr Bär, und die Diplomatie in seiner Stimme hatte sich deutlich reduziert. „Ich habe Sie den ganzen Morgen beobachtet und bis jetzt kann ich nicht sagen, dass Sie besonders produktiv gewesen wären“, entgegnete die Fliege angriffslustig. „Das liegt daran, dass Sie mich mit Ihrem Gefliege davon abhalten, effektiv sein zu können“, rief der Bär erbost. „Und wenn wir schon dabei sind, tatsächlich kann ich mich nicht erinnern, Sie in mein Haus eingeladen zu haben.“ „Gefliege, ja? Haben Sie eigentlich eine Ahnung, wie schwierig es ist, die optimale Flugbahnen zu berechnen und das immer wieder aufs Neue?“ Die Fliege schien nun fast außer sich: „Versuchen Sie das doch mal selbst, ach nein, das können Sie ja nicht mit ihrem riesigen Körper und ihrem schweren Kopf.“ Das war zuviel für Herrn Bär. Er sprang auf und schlug nach der Fliege, diese wich ihm aus und nach einem kurzen Gerangel verschwand die Fliege irgendwo im Haus. Kurz überlegte Herr Bär, ob er die Fliege suchen sollte, ließ sich stattdessen aber gefrustet in seinen Stuhl sinken.

Da die Muse wohl so schnell nicht zurückkehren würde, legte Herr Bär schließlich die Lesebrille ab und ging hinaus in seinen Garten, um sich an der frischen Luft zu beruhigen. Die Sonne schien über dem hohen Gras und den blühenden, bunten Blumen. Herr Bär schlenderte in seiner Wiese herum, roch hier und da an einer Blume und hob dort einen Stock oder Stein auf, um ihn ein Stück weiter wieder fallen zu lassen. Schließlich ließ er sich auf den Rücken fallen, beobachtete eine Weile die Wolken am Himmel und hörte dann mit geschlossenen Augen den Vögeln und Bienen zu.

Während er da so lag, ging ihm die Szene, die sich gerade mit der Fliege zugetragen hatte, immer und immer wieder durch den Kopf. Zu Beginn noch sehr aufwühlend und deutlich, wurde das Erlebte mit der Zeit eher zu einem Film, der im Hintergrund seines Denkens lief. Um so weniger er sich konzentrierte, um so mehr mischten sich die Bilder der Szene mit merkwürdigen anderen Bildern. Bilder die ihm vertraut schienen, die er aber nicht hätte aus dem Stand abrufen können. Bilder von einem kleinen Bärenjungen mit umgeschnallten Flügeln aus Draht und Spitze. Gefühle von Scham mischten sich mit den Bildern und verblassten wieder mit ihnen. Er hörte hämisches Gelächter und sah besorgte, liebevolle Bäreneltern vor seinem inneren Auge aufblitzen, die wichtige Dinge erklärten, während er halb dösend in der Wiese lag, wie in einer Art Trance.

Dementsprechend lange brauchte Herr Bär, um das Räuspern neben sich wahrzunehmen. Der Absender hatte es wohl schon ein paar Mal ertönen lassen, denn es wurde immer lauter und drängender. Er öffnete die Augen und sah sich um. Schließlich entdeckte er die Fliege auf einer Blume sitzen. „Ja, also“, begann die Fliege zögernd, als sie sich der Aufmerksamkeit des Bären gewiss war. „Ich möchte Sie nicht stören, aber ich wollte mich kurz für meine Bemerkung vorhin entschuldigen, das war nicht richtig.“ Der Bär hörte ihr schweigend zu. „Nun, es ist zwar keine Entschuldigung, aber ich hatte in letzter Zeit viel Stress, müssen Sie wissen. Ich war mehrere Tage in einer Wohnung gefangen. Fensterscheiben: sie sehen aus wie das Draußen, Sie verstehen“, erläuterte die Fliege beschämt. „Außerdem hatte ich viel Ärger mit meiner Partnerin. Sie ist sehr eifersüchtig, müssen Sie wissen, und als ich neulich nicht pünktlich zum Essen nach Hause kam, weil ich in einem Spinnennetz gefangen war, ist die Situation eskaliert und sie hat mich verdächtigt mit besagter Spinne eine Affäre zu haben und, nun ja…“, unterbrach sich die Fliege, „mir ist schon bewusst, dass das alles nicht Ihr Problem ist, mir war nur wichtig, den Eindruck, den Sie eventuell von mir haben, etwas zu revidieren und mich, wie gesagt, zu entschuldigen.“

Herr Bär war während des Monologs der Fliege bewegungslos sitzen geblieben und hatte sie angesehen. Er versuchte sich in die Fliege hineinzuversetzen, konnte aber nicht sagen, dass er ihre Probleme wirklich verstand. Ein winziges Spinnennetz würde er einfach zerfetzen und so groß wie er war, war es sehr unwahrscheinlich, dass er jemals ein Fenster und eine Tür verwechseln würde, geschweige denn ein Fenster und das Draußen. Langsam wurde Herrn Bär bewusst, dass die Fliege wohl auf eine Antwort wartete und so riss er sich aus seinen Gedanken. „Nun, wir hatten alle schon schwere Zeiten, nicht wahr?“, entgegnete er schließlich versöhnlich. Schwere Zeiten. Aus irgendeinem Grund musste er darüber lächeln.

Die Fliege verabschiedete sich schließlich, weiterhin etwas bedrückt. Herr Bär versuchte besonders viel Empathie und Freundlichkeit in seinen Abschiedsgruß zu legen. Während er zum Wohnbaum zurückschlenderte, überlegte er, ob er die Fliege damit ein wenig hat aufbauen können. Er hoffte es auf jeden Fall.

Herr Bär ließ sich schließlich wieder an seinen Schreibtisch nieder. Die Deadline war ein gutes Stück nähergerückt und er hatte immer noch kein Thema, über das er schreiben wollte. Doch eigentlich beunruhigte ihn das nicht wirklich. Wenn Herr Bär ganz ehrlich war, hatte Herr Elster schon immer ziemlich viel Respekt vor ihm gehabt, wahrscheinlich zu Recht. Überhaupt musste er sich bei seiner Kraft und Größe selten Sorgen machen, wenn es darum ging, sich durchzusetzen oder sich in Konflikten zu behaupten. Und als er schließlich sein Essay zum Thema „Vergleiche: Unglück oder Lernchance“ abgeschlossen hatte, beschloss er zur Feier seines Werkes und zu Ehren der Fliege, heute zwei statt nur ein Honigbrot zu essen. Er genoss beide in vollen Zügen, bevor er sich gähnend in seine Holzkiste vergrub und zufrieden davondöste.